Nach oben scrollen
© 2019, adribo     |     Modernes Konfliktmanagement.     |     urid

Streitkultur als Leitkultur


Markus Weinkopf M.A. - 4. März 2022

DAS INTEGRATIONSPARADOX von Aladin El-Mafaalani

Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt

Eine Buch-Rezension

Der Untertitel des Buches – eine Neuausgabe des Bestsellers von 2018 – lässt hellhörig werden: Gelungene Integration, mehr Konflikte? Diese These macht neugierig, vor allem dann, wenn man sich sowohl mit Integration als auch mit Konflikten beschäftigt. Warum also sollte etwas, was gelungen erscheint, Probleme machen?

Der Autor Aladin El-Mafaalani, Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück, macht es leicht, sich der Thematik anzunähern. Er bietet uns eine wunderbare Metapher für den dynamischen Prozess der Integration in einer offenen Gesellschaft an.

Bescheiden und fleißig nimmt die erste Generation der Einwanderer Platz in einem Raum, in dem sich die Einheimischen um einen Tisch versammelt haben. Die Zugewanderten sitzen am Boden oder am Katzentisch und sind froh, überhaupt da zu sein. Ihre Nachkommen beginnen, sich mit an den Tisch zu setzen. Sie sprechen die Sprache der Einheimischen und sehen sich als Teil des Ganzen. Auch sie wollen einen schönen Platz und ein Stück vom Kuchen. Es gibt einen Anspruch auf Positionen und Ressourcen. Die dritte Generation gibt sich damit nicht mehr zufrieden, sie möchte mitentscheiden, möchte mitreden nach welchem Rezept der Kuchen gebacken wird und wie die Regeln am Tisch sind.

Immer mehr Menschen in unserem Land artikulieren so ihre Bedürfnisse und Interessen. Damit entstehen aber auch immer mehr Konflikte. El-Mafaalani postuliert: „Gelungene Integration erhöht deshalb das Konfliktpotential, weil Inklusion, Gleichberechtigung oder eine Verbesserung der Teilhabechancen nicht zu einer Homogenisierung der Lebensweisen, sondern zu einer Heterogenisierung und Pluralisierung, nicht zu mehr Harmonie und Konsens in der Gesellschaft, sondern zu mehr Dissonanz und Neuaushandlung führt.“

Der Autor geht von der Tatsache aus, dass Konflikte deshalb entstehen, weil sich die Konfliktparteien in einer Beziehung zueinander befinden. Der Konflikt ist also Ausdruck des Zusammenwachsens. Wer sich näher kommt, droht eher in einen Konflikt zu geraten, als diejenigen die sich voneinander abwenden. Diesen Konflikten widmet sich der Autor noch intensiver. Dabei unterscheidet er zwei Arten von Konflikten. Konflikte der ersten Art sind jene, die zwischen Menschen entstehen, deren Verhältnis bisher eng war und die aufgrund eines Streites auseinandergehen. Und solche der zweiten Art sind Konflikte, die erst entstehen, weil man eine Gemeinsamkeit entwickelte, die es vorher nicht gab. Diese Konfliktart gibt es eben aufgrund gelungener Integration. Zwei Seiten, die bisher nichts miteinander zu tun hatten, aber aufeinander zugekommen sind, am selben Tisch Platz genommen haben, erleben ein Zusammenwachsen, das nicht reibungslos ist. Ein Zusammenkommen mit Schmerzen.

Genau hier setzt El-Mafaalani an, wenn er Konflikten etwas Gutes abgewinnt. Er bemerkt, dass die Bedeutung von sozialen Konflikten von Persönlichkeiten wie Lewis Alfred Coser und Ralf Dahrendorf durchaus gewürdigt wurde, er bedauert aber auch, dass dies nicht ebenso in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erfolgte. Er erkennt, dass Konflikte die offene Gesellschaft zusammenhalten und spricht sich für eine Streitkultur aus, die die beste Leitkultur ist. Konfliktfreudigkeit führt seines Erachtens zu konstruktiven Konfliktlösungsstrategien. Im Umgang mit Konflikten können wir es schaffen, die positiven Seiten eines Konfliktes herauszufiltern.

Selbstverständlich betrifft dies vor allem eine Gesellschaft, die als offen und liberal bezeichnet werden kann. Aber eben gerade dieser Art von Gesellschaft traut es der Autor zu, den Herausforderungen der Konfliktbewältigung gewachsen zu sein. Dabei geht es nicht allein um Menschen mit Migrationshintergrund. El-Mafaalani sieht auch im Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland ein Feld der Integration, auf dem gilt, dass Erfolge von Konflikten begleitet werden.

Auf über 270 Seiten beschäftigt sich Aladin El-Mafaalani sehr aufschlussreich, spannend und unterhaltsam mit der Rolle der offenen Gesellschaft, die durchaus auch an ihre Grenzen stößt. Wenn Globalisierung für Öffnung steht, erkennt El-Mafaalani auch Tendenzen einer Schließung durch Nationalismus, Populismus und andere Ismen. Sein Blick bleibt aber optimistisch, was das schmerzende Zusammenwachsen betrifft. Hier und auf vielen anderen Gebieten der Integration sieht er Chancen für die Streitkultur, die aufgrund einer intensiven Kommunikation zur idealen Leitkultur werden kann, alleine auch deshalb, weil eine Einigung auf die eine Leitkultur im traditionellen Sinn ohnehin keine Aussicht besteht.

Die Annahme, dass gelungene Integration einhergeht mit Harmonie, Gleichgewicht und Konfliktfreiheit, ist also widerlegt. Vielfalt und die Anerkennung von Diversität sind Grund für Konflikte. Das muss sich die Tischgesellschaft vor Augen halten, die Türen öffnet, um neue Gäste einzulassen. Deutschland ist ein Einwanderungsland und wird sich den damit verbundenen Herausforderungen stellen müssen. Das macht dieses intelligente Buch von El-Mafaalani beeindruckend deutlich. Nicht zuletzt kommt es auf die Akteurinnen und Akteure an, die sich mit Konflikten aber auch mit Zuwanderung beschäftigen, wie unsere Gesellschaft das Thema Integration bewältigt.

Eine – sicher nicht die einzige – Handlungsanleitung hierfür liegt vor: DAS INTEGRATIONSPARADOX von Aladin El-Mafaalani erschienen bei Kiepenheuer & Witsch – ISBN 978-3-462-05427-9

Author avatar

Markus Weinkopf M.A.

Zertifizierter Mediator

Der Autor Markus Weinkopf ist Architekt und Stadtplaner. Er studierte in Wien an der Technischen Universität Architektur und arbeitete später in einem Architekturbüro, das er mehrere Jahre als Büroleiter führte. 2006 wurde er dort Partner und absolvierte im gleichen Jahr eine Ausbildung zum Mediator für den Bereich Planen, Bauen und Umwelt bei der Bayerischen Architektenkammer. Seinen Master of Arts (M.A.) für Mediation legte er an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder ab. Weitere Erfahrungen hat Markus Weinkopf in Wirtschafts- und Gemeinwesenmediation sowie als Moderator von Bürgerbeteiligungsverfahren. Wegen seiner architektonischen und baulichen Expertise ist Markus Weinkopf ein gefragter Mediator für den öffentlichen und privaten Bausektor. Markus Weinkopf ist seit 1993 ehrenamtlich für das psychosoziale Zentrum REFUGIO München aktiv, u.a. im Vorstand des Träger- und Fördervereins. REFUGIO ist eine NGO, die sich vor allem um traumatisierte Flüchtlinge kümmert.

Zur ausführlichen Vita