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Das Güterichterverfahren – bereits tot oder noch zu retten?


Prof. Dr. Roland Fritz M.A. - 18. Mai 2024

I. Das gerichtliche Güteverfahren, durch Art. 2 des „Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung“ im Jahre 2012 eingeführt, erfreut sich bei denen, die als Güterichterinnen und Güterichter damit befasst sind, großer Beliebtheit. Gleichwohl findet es in der täglichen gerichtlichen Praxis nur bedingt statt, wie die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes ausweisen. So macht die Anwaltschaft von der Sollvorschrift des § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO, wonach es bereits bei Klageerhebung Angaben zu einer konsensualen Streitbeilegung bedarf, so gut wie keinen Gebrauch, was von den Gerichten fast immer ohne weitere Nachfragen hingenommen wird. Und die Richterschaft ihrerseits wendet die Verweisungsmöglichkeit nach § 278 Abs. 5 ZPO nur außerordentlich zurückhaltend an. Da wundert es nicht, dass insbesondere in der aktuellen Nach-Corona-Ära die Zahl der Güterichterverfahren bundesweit weiter zurückgegangen ist.

Was dies für die tägliche gerichtliche Praxis bedeutet und wie der gegenwärtig zu beobachtende Trend umgekehrt werden kann, darüber diskutierten anlässlich des 20. Verwaltungsgerichtstages in Würzburg am 16. Mai 2024 knapp 50 Güterichterinnen und Güterichter in dem eigens hierfür etablierten Arbeitskreis 10.

II. Moderiert von der Präsidentin des Verwaltungsgerichts Ansbach Frau Claudia Frieser erläuterte adribo Gesellschafter Prof. Dr. Roland Fritz in seinem Einführungsstatement „Güteverfahren nach Corona – vom Rückblick zum Ausblick“ zunächst die Entwicklung und die Gründe, die die aktuelle Situation kennzeichnen. Hier seine Ausführungen:

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Güterichterinnen und Güterichter, liebe Kolleginnen und Kollegen,

wer wie ich schon so lange mit Konfliktmanagement, der gerichtsinternen Mediation und auch mit dem Güterichter1 befasst ist, dem fällt es nicht schwer, in der Entwicklung des Güteverfahrens, wie wir es heute kennen, drei Entwicklungsstufen zu identifizieren:

Stufe 1 betrifft die Zeit der freiwilligen Pilotprojekte der gerichtsinternen Mediation bis zum Jahre 2012.

Die Stufe 2 umfasst die Zeit, in der die gerichtsinterne Mediation durch das Mediationsförderungsgesetz abgelöst und in das erheblich erweiterte Institut des Güterichters übergeführt wurde.

Und die Stufe 3 hat ihren Beginn mit der Corona-Epidemie und dauert an; sie ist dadurch geprägt, dass die Zahl der Güterichterverfahren deutschlandweit erkennbar zurückgegangen ist.

Doch lassen Sie uns diese Entwicklung, diese drei Stufen, ein wenig genauer betrachten.

>Die Entwicklung in der Stufe 1 reicht weit zurück und war zunächst stark geprägt vom Verständnis der jungen Bundesrepublik, sich in Abgrenzung zur Nazi-Diktatur zu positionieren: als demokratischer und sozialer Rechtsstaat, der über Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie den Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 GG den Bürgern einen umfassenden Rechtsschutz garantiert.2

Dementsprechend hatte sich auch das BVerfG von Beginn seiner Spruchtätigkeit an immer wieder mit der Bedeutung dieser Rechtsschutzgarantien befasst und sie in ständiger Rechtsprechung als „Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes“ interpretiert. Es sei ein zentralen Aspekt der Rechtsstaatlichkeit, die eigenmächtig-gewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen zwischen Privaten auszuschließen und diese auf den Weg zu den Gerichten zu verweisen.3

Zugleich wurde das Rechtsschutzsystem in Deutschland immer mehr ausgebaut: Sie erinnern sich an die Einführung eines (eigenständigen) Familiengerichts,4 aber auch die Etablierung eines Verbandsklagerechts für die Bereiche Umwelt-, Natur- und Denkmalschutzrecht,5 um nur einige markante Beispiele zu benennen.

Damit einher ging in der Folgezeit eine zunehmende Prozessfreudigkeit der Bevölkerung6 – was dann aber, ich will es abkürzen,7 als Prozessflut wahrgenommen wurde8 und zu Veränderungen des Prozessrechts durch Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren führte9 – bis hin zu der abstrusen Debatte der Zusammenlegung von Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit10 – Sie erinnern sich gewiss alle!

Doch parallel dazu gab es bereits in den 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts erste Überlegungen,11 ob und wie durch alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten „Konflikte ohne Einbuße an Gerechtigkeit auch außerhalb der Gerichte beigelegt werden könnten“, so Jutta Limbach,12 die spätere Präsidentin des BVerfG, im Jahre 1988 anlässlich einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll zu „40 Jahren Grundgesetz“.

Insbesondere Friedemann Schulz-von Thun13 und Friedrich Glasl14 (den Güterichter unter Ihnen sind die beiden sicherlich aus ihrer Ausbildung her bekannt) gehörten zu den Apologeten, die ausgehend von der Situation in den USA neue Konfliktlösungsmöglichkeiten vorstellten und deren Übertragbarkeit auf die Situation in der Bundesrepublik zur Diskussion stellten.

Die weitere Entwicklung dürfte auch den Jüngeren unter Ihnen bekannt sein: Zunächst im Bereich des Familienrechts, dann aber auch weitere Rechtsgebiete besetzend, etablierte sich die einvernehmliche Konfliktbeilegung mit der Methode der Mediation, ausgerichtet am Harvard-Prinzip,15 in erfreulichem Maße. Zugleich gründeten sich Ausbildungsinstitute, organisierten sich Mediationsverbände,16 wuchs die Zahl ausgebildeter Mediatoren rasch an.

Verwaltungen wie auch Gerichte besetzten in der Folge ebenfalls dieses Thema und offerierten als neue Dienstleistung alternative Streitschlichtung und Mediation. Das war die Geburtsstunde der gerichtsinternen Mediation!

Seinerzeit zählten das VG Berlin,17 das VG Hannover18 und insbesondere das VG Freiburg19 zu den Pionieren.20 Und auch die hessische Verwaltungsgerichtsbarkeit, aus der ich ja komme, etablierte alsbald dieses neue Angebot, begleitet von einer internationalen Veranstaltung am Verwaltungsgericht in Gießen im Rahmen der Europawoche 2004 mit Richterkollegen und -kolleginnen aus zahlreichen europäischen Ländern. „Mediation statt Verwaltungsprozess?“ – als Frage formuliert – lautete der Titel der Veranstaltung.21

Ebenso dann der 14. Deutsche Verwaltungsrichtertag, der sich im Oktober des gleichen Jahres, mithin vor 20 Jahren bereits, in seinem Arbeitskreis 2 mit dem Thema „Mediation im Verwaltungsrecht“ befasste.22

Dann, keine drei Jahre später, der Ihnen allen bekannte richtungsweisende Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts, der klarstellte, es sei auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung vorzugswürdig, eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen.23

Das war der Ritterschlag aus Karlsruhe für alle, die sich für dieses neue Instrument der gerichtsinternen Mediation stark gemacht hatten oder, um Reinhard Greger24 zu zitieren, ein „Meilenstein“ auf dem Weg zu einer stärkeren Konsensorientierung der Rechtspflege.

> Die Stufe 2, wie ich sie nennen möchte, zündete dann im Jahre 2012 mit dem „Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung“. Durch die Implementierung des sog. Güterichters wurde die Tür für konsensuale Streitbeilegung innerhalb aller Gerichtsbarkeiten weit aufgestoßen. Was bis dahin im Kontext der gerichtsinternen Mediation ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage erprobt worden war, ist nunmehr als „erheblich erweitertes Institut des Güterichters“ über zahlreiche Normen, namentlich über § 278 Abs. 5 ZPO, gesetzlich verankert:25

Das neue Konzept dieses erheblich erweiterten Instituts des Güterichters beinhaltet demnach, dass es

  • in allen Gerichtsbarkeiten Anwendung findet,
  • nur auf einen nicht entscheidungsbefugten Richter zutrifft,
  • allein für fakultative Güteverhandlungen nach § 278 Abs. 5 ZPO wie auch weitere Güteversuche gilt (nicht jedoch für semi-obligatorische Güteverhandlungen nach § 278 Abs. 2 ZPO),
  • als richterliche Tätigkeit anzusehen ist und
  • der Freiwilligkeit und Vertraulichkeit besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt.

Dementsprechend gilt für den einzelnen Güterichter, dass er

  • über besondere fachliche Qualifikationen verfügen muss,
  • nur mit Einverständnis der Parteien tätig werden darf (sog. fakultative Gütever-handlung),
  • die Prozessakten einsehen kann,
  • sich aller Verfahren der Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation bedienen kann, mithin die Freiheit der Methodenwahl hat,
  • mit Einverständnis der Parteien Einzelgespräche führen kann,
  • formal nicht am Verfahren beteiligte Dritte zu dem Verfahren hinzunehmen darf,
  • rechtliche Bewertungen vornehmen und den Parteien Lösungen für den Konflikt vorschlagen kann,
  • mit Zustimmung der Parteien eine Niederschrift erstellen, Anträge entgegennehmen und einen Vergleich protokollieren kann. Ob es ihm auch gestattet ist, einen Streitwert, Beschwerdewert oder Gegenstandswert festzusetzen, wird überwiegend verneint.

Dem Güterichter steht somit die ganze Palette der konsensualen Konfliktbeilegungsverfahren zur Verfügung, er agiert als Konfliktmanager im staatlichen Gerichtssystem.26

Doch es gilt auch hier – und das ist mir wichtig zu betonen – der Satz der „Methodenklarheit bei Methodenvielfalt“.27 Die Beachtung dieses Grundsatzes soll den Güterichter davor bewahren, zwischen einzelnen Verfahren der Konfliktbearbeitung zu wechseln und Elemente der einzelnen Methoden willkürlich miteinander zu vermischen.
– Ein stockendes oder gar scheiterndes Mediationsverfahren dadurch retten zu wollen, dass der Güterichter – entgegen seiner eingangs mit den Parteien getroffenen Vereinbarung (sic!) – sodann einen Lösungsvorschlag unterbreitet, bedeutet in meinen Augen eine methodische Fehlleistung und birgt die Gefahr eines Glaubwürdigkeits-verlustes.
– Denkbar ist hingegen, dass der Güterichter gemeinsam mit den Parteien übereinkommt, eine bestimmte Methode zu beenden und mit deren Einverständnis mit einer anderen Methode fortzufahren. Doch auch das ist nicht unproblematisch – könnten die Parteien doch geneigt sein, sich nicht vorbehaltlos auf das Verfahren der Mediation einzulassen und in den Verhandlungsprozess einzusteigen, weil sie u.U. auf einen Schlichterspruch des Güterichters spekulieren.
– Andererseits entspricht es auch nicht dem Selbstverständnis von Güterichtern und der Erwartungshaltung der Parteien, die sich beispielsweise in mehreren konfliktbehafteten Punkten selbst geeinigt haben, beim letzten Konfliktgegenstand aber allein nicht weiterkommen, dass sie dann nicht vom Güterichter unterstützt werden – und sei es in einem anderen Verfahrenssetting.28

Aus all dem folgt und ist vom Gesetzgeber gewollt, dass sich das Verfahren vor dem Güterichter in zahlreichen Punkten erheblich von dem durch die Prozessordnungen geregelten Verfahren unterscheidet – auch bspw. dem Erörterungstermin nach § 87 VwGO. Denn auch dem noch so vergleichsfreudigsten Verwaltungsrichter stehen jedenfalls nicht die gesetzlichen Möglichkeiten zur Verfügung, auf die der Güterichter zurückgreifen kann.

Von diesen gesetzlichen Möglichkeiten wurden bis in die Zeit der Corona-Pandemie hinein in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlichem Maße Gebrauch gemacht, wobei insgesamt gilt, dass die Anzahl der Güterichterverfahren durchaus umfangreicher hätte sein können.

Im Jahre 2022 jedenfalls, so weisen es die mir zur Verfügung stehenden Zahlen des Statistischen Bundesamtes29 aus, hat vor den Amtsgerichten nur in ca. 0,6 Prozent und vor den Landgerichten nur in ca. 2 Prozent der erledigen Verfahren eine Verweisung vor den Güterichter stattgefunden. Innerhalb der einzelnen Bundesländer sind die Unterschiede in der Verweisungspraxis in besonderem Maße bemerkenswert: Bezogen auf die Landgerichte liegt Mecklenburg-Vorpommern mit über 15 Prozent an der Spitze, während Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland nur klägliche 0,5 Prozent aufzuweisen haben.30

> Doch wie sieht es in der aktuellen Entwicklung aus, die ich als Stufe 3 bezeichnen möchte? Gerade die Verwaltungsgerichte befinden sich bundesweit in einem beklagenswerten Zustand, wenngleich auch hier gilt, dass die Zahlen von Bundesland zu Bundesland und auch innerhalb der einzelnen Bundesländer erheblich schwanken. Lag die Zahl der Güterichterverweisungen 1. Instanz in ganz Deutschland im Jahre 2019 bei 200 und im Jahre 2020 bei 198 Verfahren, reduzierte sie sich im Pandemiejahr 2021 auf 100 Verweisungen, ein Einbruch von 50 Prozent.31

Und die Zahlen für die Hess. Verwaltungsgerichtsbarkeit, die mir für die Folgejahre vorliegen, zeigen auf, dass im Jahre 2021 bei den fünf Verwaltungsgerichten noch 59 Güterichterverfahren durchgeführt wurden, in 2022 dann 41 und in 2023 nur noch 36.

Es bleibt mithin die Frage, was wir alle – die wir von dem Verfahren der konsensualen Streitbeilegung, namentlich auch im gerichtlichen Kontext, überzeugt sind – tun können, um den aktuellen Trend in der Entwicklungsstufe 3 umzukehren. Lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf folgende 10 Punkte lenken:

1. Zunächst ist ein Appell an uns alle hier gerichtet, die wir von der konsensualen Streitbeilegung insgesamt und dem Güteverfahren im Besonderen überzeugt sind: Ist es nicht an der Zeit, wieder verstärkt auf konsensuale Lösungen zu setzen – im weltpolitischen wie im nationalen Bereich, bei gesellschaftlichen Fragen wie auch bei Rechtsstreitigkeiten? Wachen wir also auf, lassen wir uns nicht länger von unserer eigenen Euphorie über das „tolle“ Verfahren benebeln, identifizieren wir die Punkte, die zu ändern sind und packen wir sie an.

2. Nehmen wir die gerichtliche Führungsebene in den Blick. Nur dann, wenn Präsidentinnen und Präsidenten das Güterichterverfahren als sinnvoll, förderungswürdig und unterstützenswert erachten und dies auch entsprechend umsetzen, werden sich die Zahlen ändern. Von daher: Suchen Sie das Gespräch mit ihren Gerichtsleitungen, berichten sie immer wieder über die Vorteile der konsensualen Streitbeilegung, regen Sie an, dass auch Ihre Präsidentin, Ihr Präsident eine Mediationsausbildung absolviert. Denn Mediation ist bekanntlich auch ein Führungsinstrument, um den im Justizalltag nicht unerheblich auftretenden Konflikten adäquat begegnen zu können.

3. Vergessen Sie Ihre Richterkolleginnen und -kollegen nicht. Sie sind diejenigen, die die Beteiligten an den Güterichter verweisen. Das Nicht-Vergessen organisieren Sie am besten im Verbund mit der dafür bereits begeisterten oder zumindest überzeugten gerichtlichen Führungsebene.

4. Informieren Sie kontinuierlich Ihre richterlichen Kolleginnen und Kollegen. Regen Sie Schulungen für die Richterschaft32 bei den zuständigen Ministerien an. Nur wer von der Sinnhaftigkeit und dem Wert konsensualer Konfliktbeilegung überzeugt ist, ist auch bereit, sich innovativen Formen der Konfliktkultur zu öffnen und seinen Teil dazu beizutragen.

5. Organisieren Sie formale Dinge wie bspw. Checklisten33 für Ihre richterlichen Kolleginnen und Kollegen, die aufzeigen, wann eine Verweisung besonders angezeigt sein kann.34 Eine frühzeitige Konfliktdiagnose mithin! Werben Sie dafür, bereits in den Eingangsverfügung auf den Wert des Güterichterverfahrens hinzuweisen und zu überprüfen, ob der Sollvorschrift des § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO Genüge getan wurde und wenn nicht, bei der Klägerseite entsprechend nachzuhaken.

6. Setzen Sie sich, wann und wo immer es geht, dafür ein, dass die Sollvorschrift des § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO in eine zwingende Norm umgeändert wird.

7. Vergessen Sie nicht, die Anwaltschaft für das Güterichterverfahren zu gewinnen.35 Unterstützen Sie den notwendigen Paradigmenwechsel vom Rechtsvertreter zum Begleitanwalt.36

8. Versuchen Sie einmal neue Techniken. Was – außer vielleicht mangelnde ODR-Kenntnisse oder -Erfahrungen – spricht eigentlich dagegen, ein Güteverfahren auch einmal im virtuellen Raum, also online durchzuführen?37

9. Setzen Sie sich frühzeitig mit KI auseinander, denn sie wird vor den Bereichen des Konfliktmanagements nicht halt machen. KI steht nicht mehr nur vor der Tür, sondern ist bspw. in Gestalt von ChatGPT bereits eingetreten. So können Sie sich schon jetzt Informationen bereitstellen und Dokumentationen erstellen lassen, optimierte Lösungen für den jeweiligen Konflikt generieren und vieles andere mehr.38

Und schließlich – das ist mein Werbeblock –:

10. Orientieren Sie sich an Europa! Über 800 Richterinnen und Richter aus der Europäischen Union, die mit Mediation befasst sind, sind bei GEMME (Groupement Européen de Magistrats pour la Médiation) organisiert und tauschen sich regelmäßig aus. Und da gibt es auch eine deutsche Sektion mit einem entsprechenden Auftritt im Internet.39 Nutzen Sie die Erfahrungen, die andere schon vor Ihnen gemacht haben!

Soweit, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine ersten Anregungen für unseren heutigen Arbeitskreis.“

III. Vorsitzender Richter Thilo Reindl vom Verwaltungsgericht Ansbach und Richterin am OVG Greifswald Dorothea ter Veen ergänzten und vertieften diese Ausführungen, indem sie ihre spezifischen „Landeserfahrungen“ beisteuerten und darlegten, welche Entwicklung das Güteverfahren in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern genommen hat. Beide wiesen darauf hin, dass auch die bei den Gerichten aufgelaufene sog. „Asylwelle“ die Güterichterverfahren zurückgedrängt hätten, noch bevor durch die Corona-Pandemie ein weiterer Einbruch zu verzeichnen gewesen wäre. Durch die verstärkte Arbeitsbelastung bei den Richterinnen und Richtern sei das Nachdenken über Güterichterverfahren in den Hintergrund getreten. Auch mangele es häufig an einer entsprechenden Unterstützung und Förderung seitens der Landesjustizministerien. Insgesamt sei der Rückgang an Güterichterverfahren unübersehbar und langfristig bedenklich . Gleichwohl, so VRiVG Reindl, sei das Güterichtermodell in Bayern ein Erfolgsmodell.

IV. In der anschließenden lebhaften Diskussion ging es u.a. um Fragen der Verfahrensakquise, eine frühzeitige Verweisung der Beteiligten an den Güterichter und die erfolgreiche Einbindung von Rechtsanwälten in das Verfahren; zudem wurde das Erfordernis eines Belastungsausgleichs für Güterichter diskutiert. Ferner wurde der Einsatz unterschiedlicher Konfliktbeilegungs-Methoden sowie spezifischer Formate wie Einzelgespräche, Co-Mediation, Meta-Dialog und Supervision erörtert, bevor abschließend darüber gesprochen wurde, wie nach erfolgter Einführung der E-Akte verhindert werden kann, dass ein Zugriff durch Dritte auf etwaige Inhalte des Güterichterverfahrens erfolgt.

V. Die Erörterungen, Forderungen und Meinungen der Teilnehmenden im Arbeitskreis 10 bestärken den Verfasser in seiner Auffassung, dass es alsbald der Umsetzung einiger unabdingbarer Maßnahmen bedarf, wenn denn das Güterichterverfahren nicht einem schleichenden Tod entgegensehen soll. Gefordert sind Gesetzgeber, Justizministerien und Präsidien der Gerichte.

>Vorzugsweise noch in dieser Legislaturperiode ist ein Tätigwerden des Gesetzgebers erforderlich mit dem Ziel

– eine Änderung des § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO in eine zwingende Vorschrift,

– eine Änderung des § 278 Abs. 5 ZPO in eine Soll-Vorschrift und

– eine Einführung einer Mediationskostenhilfe entsprechend den Regeln über die Prozesskostenhilfe herbeizuführen.

>Darüber hinaus sind die Landesjustizministerien aufgerufen, im Rahmen ihrer Fortbildungsprogramme verpflichtende Angebote der gesamten Richterschaft zu unterbreiten, um über Bedeutung und Nutzen des güterichterlichen Verfahrens wie auch der konsensualen Streitbeilegung insgesamt kontinuierlich zu unterrichten. Zudem sollten die Ministerien die Bedeutung der Mediation als Führungsinstrument stärker in den Blick nehmen und entsprechende verpflichtende Angebote für gerichtliche Führungskräfte anbieten.

>Schließlich sind die Präsidien der Gerichte ersucht, den jeweiligen Güterichtern einen Belastungsausgleich für durchgeführte Mediationen einzuräumen und dies in den Geschäftsverteilungsplänen auszuweisen.

1 Hinweis: Soweit in diesem Referat aus Gründen der besseren Lesbarkeit bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Substantiven die männliche Form verwendet wird, gelten entsprechende Begriffe und Bezeichnungen im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

2 Hesse, Das Grundgesetz in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland; Aufgabe und Funktion der Verfassung, S. 3 ff (9), in: Benda, Maihofer, Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin, New York 1983

3 Vgl. nur BVerfGE 54, 277 (291 ff)

4 Im Jahre 1976

5 Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 6. Aufl., München 2005, § 14 Rdn. 122 ff

6 Seinerzeit von Hans-Jochen Vogel als „Ausdruck wachsender Mündigkeit des Bürgers“ interpretiert, in: Der Rechtsstaat erstickt nicht, Die Zeit, 6.6.1980

7 Ausführlich hierzu der Vortrag des Verf. anlässlich des 6. Güterichtertages Baden-Württemberg am 19.1.2021, https://adribo-academy.de/6-gueterichtertag-baden-wuerttemberg/

8 Dieterich, Das Verhältnis von Recht und Politik, S. 48, in: Pfeiffer (Hrsg.), Auftrag Grundgesetz, Stuttgart 1989

9 Bender, Mehr Rechtsstaat durch Verfahrensvereinfachung, S. 629 ff, ferner Strempel, Empirische Rechtsforschung. Entwicklung und Beitrag für die Rechtspolitik, S. 223 (231, Fn. 47 bis 53), jeweils in: Broda, Deutsch, Schreiber, Vogel (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Wassermann, Neuwied 1985. Exemplarisch zudem für das Asylrecht: Fritz, Die unendliche Geschichte der Beschleunigung der Asylverfahren – Zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes durch das Zuwanderungsgesetz, InfAuslR 2005, 536.

10 Berlit, Zusammenlegung von Gerichtsbarkeiten, Betrifft JUSTIZ 2004, 226.

11 Gottwald, Alternative zum zivilen Justizverfahren, ZRP 1982, 28; Heyde, Die Rechtsprechung, S. 1199 (1249), in: Benda, Maihofer, Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin, New York 1983

12 Lebendiges Grundgesetz: Erwartungen – Forderungen, S. 214 (242), in: Pfeiffer (Hrsg.), Auftrag Grundgesetz, Stuttgart 1989

13 Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen, Hamburg 1981

14 Konfliktmanagement, Bern 1990; ferner Krabbe (Hrsg.), Scheidung ohne Richter, Hamburg 1991

15 Fisher, Ury, Gettig to Yes, 1981

16 Bundesverband Mediation, BAFM, BMWA, DGM etc.

17 Vgl. hierzu Ortloff, Mediation innerhalb und außerhalb des Verwaltunsprozesses, NVwZ 2004, 385

18 Olenhusen, Richterliche Konfliktmittlung im Wandel, ZKM 2004, 104

19 Von Bargen, Mediation im Verwaltungsprozess, DVBl. 2004, 468 ff.

20 Vgl. auch Pitschas/Walther (Hrsg.), Mediation in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Speyrer Arbeitsheft Nr. 173

21 Fritz, Karber, Lambeck, Mediation statt Verwaltungsprozess?, München 2004

22 Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag e.V., Dokumentation zum 14. Deutschen Verwaltungsrichtertag, Stuttgart 2004

23 Beschluss vom 14.2.2007 – 1 BvR 135/01, ZKM 2007, 128 ff.

24 Anmerkung zu BVerfG, B. v. 14.2.2007 – 1 BvR 135/01, ZKM 2007, 130 f.

25 Umfassend hierzu Fritz, Pielsticker (Hrsg.), Handbuch zum Mediationsgesetz, 2. Aufl., Hürth 2020, 3. Aufl., Hürth 2024, Kommentierung zu § 278 ZPO

26 Fritz, Schroeder, Der Güterichter als Konfliktmanager im staatlichen Gerichtssystem, NJW 2014, 1910 ff.

27 Fritz, Pielsticker (Hrsg.), Handbuch zum Mediationsgesetz, 2. Aufl., Hürth 2020, § 278 ZPO Rn. 66; 3. Aufl., Hürth 2024, § 278 ZPO Rn. 67

28 Vgl. Brändle, Final-Offer Arbitration als letztes Angebot in der Güteverhandlung, S. 125 ff. in: Schreiber (Hrsg.), Praxishandbuch Güterichterverfahren, Norderstedt 2022

29 https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Gerichte/verwaltungsgerichte-2100240217004.pdf?__blob=publicationFile

30 Vgl. gueterichter-forum.de, Bericht vom 22.08.2023

31 https://www.gueterichter-forum.de/wp-content/uploads/2023/08/GR-Statistik-2022.docx

32 Fritz, Pielsticker (Hrsg.), Handbuch Mediationsrecht, 3. Aufl., Hürth 2024, § 278 Rn. 98 ff.;

Wegener, 10 Jahre Güterichterverfahren: Weiter so!, NZFam 2022, 621; Fritz, Krabbe, Plädoyer für Qualität

und Nachhaltigkeit der Güterichterausbildung, NVwZ 2013, 29

33 Eine Verweisung an den Güterichter ist ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn (alternativ)

-zwischen den Beteiligten eine (erhaltenswerte) Beziehung geschäftlicher oder persönlicher Art besteht

-der Rechtsstreit nur einen Teil der konfliktbehafteten Beteiligtenbeziehung betrifft

-weitere Prozesse zwischen den Beteiligten anhängig oder angekündigt sind

-der Rechtsstreit Ausdruck einer tiefgreifenden Beziehungsstörung ist

-der Konflikt sich auf Kommunikationsdefizite im vorprozessualen Stadium zurückführen lässt

-die streitige Prozessführung mit erheblichen Unwägbarkeiten (z. B. unklare Beweislage, Auslegungsfragen)

behaftet ist

-die Realisierbarkeit des mit der Klage erstrebten Ziels fraglich erscheint (bspw. bei drohender

Zahlungsunfähigkeit)

-eine umfassende Konfliktlösung die Einbeziehung Dritter, nicht am Prozess beteiligter Personen erfordert

-die Öffentlichkeit der Verhandlung beim Prozessgericht einer offenen Sachverhalts- und

Interessenserörterung entgegensteht

-schwierige Vergleichsverhandlungen unter den Rahmenbedingungen des Güterichterverfahrens mit größerer

Erfolgsaussicht geführt werden können

und (kumulativ)

-das spezifische Leistungsprofils des Güterichters dem nicht entgegensteht.

Hingegen wird eine Verweisung nicht in Betracht kommen, wenn

-die Beteiligten (bereits) deutlich gemacht haben, dass sie damit nicht einverstanden sind,

-ein erkennbares Interesse der Beteiligten an einer rechtlichen Klärung der Streitfrage besteht,

-ein Interesse des Klägers an einer raschen Titulierung eines klaren Rechtsanspruchs gegeben ist,

-Anhaltspunkte für unlautere Machenschaften vorliegen,

-ein Beteiligter zu sachbezogenen Kommunikation nicht fähig ist,

-der Rechtsstreit sich in Nebenkonflikten zersplittert, deren Aufarbeitung erheblichen Zeit- und

Kostenaufwand verursacht,

-ein erhebliches Ungleichgewicht der Verhandlungsstärke besteht,

-psychische Auffälligkeiten (bspw. querulatorische Tendenzen) erkennbar sind,

-tiefgreifende Störungen auf der emotionalen Ebene vorliegen

(https://www.gueterichter-forum.de/praxisforum/recht-und-praxis/falleignung/).

34 Fritz, Pielsticker (Hrsg.), Handbuch Mediationsrecht, 3. Aufl., Hürth 2024, § 278 Rn. 91 f.

35 Vgl. auch Lapp, Außergerichtliche Streitbeilegung, Anwaltsblatt I/2024, 64 ff.

36 Köncke, Bohnen, Rechtsanwältin und Rechtsanwalt im Güterichterverfahren, S. 55 ff, in: Schreiber (Hrsg.), Praxishandbuch Güterichterverfahren, Norderstedt 2022

37 Rickert, Online Mediation – Konfliktklärung im virtuellen Raum, 2022

38 Steffek, Die Veränderung der Konfliktlösung durch künstliche Intelligenz, ZKM 2022, 212 ff., 2023, 121 ff., Heetkamp / Piroutek, ChatGPT in Mediation und Schlichtung, ZKM 2023, 80 ff.

39 https://gemmeeurope.org/en/deutschland

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Prof. Dr. Roland Fritz M.A.

Zertifizierter Mediator, WirtschaftsMediator, Supervisor
Rechtsanwalt


Der Autor Prof. Dr. Roland Fritz verfügt über eine lange juristische Karriere. Er war als Richter tätig, arbeitete einige Jahre beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wurde Präsident des Verwaltungsgerichts Gießen, später Präsident des Verwaltungsgerichts in Frankfurt/Main und ist seit 2002 ebenfalls Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Seit 2013 ist er als Rechtsanwalt zugelassen. Roland Fritz ist Absolvent des Master-Studiengangs Mediation an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Er war seit 2006 als gerichtlicher Mediator in der hessischen Verwaltungsgerichtsbarkeit aktiv und ist nun als freiberuflicher Mediator, Supervisor und Trainer für Richter, Rechtsanwälte sowie Studenten tätig.

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